„Da half nur noch das Beten“ Dramatische Minuten bei Kriegsende -
von Walter Goldmann

Vorbemerkung:

Walter Goldmann lebte ab 1940 in Börgerwald bei seinem Onkel Bernhard Hunfeld. Die Hofstelle lag an der Esterweger Straße, gleich hinter der Gaststätte Langen/Muttkes; der Hof ist heute dort nicht mehr vorhanden. Am 9. April 1945 erreichte die Front von Neubörger kommend den Ort Börgerwald. Zu dieser Zeit war der Küstenkanal Kampflinie.

Walter erinnert sich:
Die kanadischen Panzer kamen als Spähtrupps aus Neubörger; sie fuhren über die Kirchstraße, an der Panzersperre bei Korte/Blockwillm vorbei bis zur Kreuzung in Börgerwald und erkundeten das Gelände in Börgerwald. Es waren drei Panzer, einige LKW und Jeeps mit ein paar Dutzend GI´s. Sie nahmen Quartier bei der Gaststätte Grote. Von der Kreuzung aus ging es dann später weiter in Richtung Börgermoor, wo sich die deutschen SS-Truppen am Küstenkanal verschanzt hatten. Zwischen den Kanadiern und der Front am Küstenkanal, wo die Wehrmacht noch stand, hatten sich beim Mühlenbetrieb Breckweg an der Schleusenstraße (heute Kaufhaus K&K), ca. ein Dutzend SS-Leute verschanzt.

Wir, d. h. mein Onkel, meine Cousinen Margret, Katharina und ich, waren dabei, Hausrat wieder einzuräumen. Wir kamen gerade von Verwandten vom Wattberg zurück. Hier, etwas abgelegen hatten wir die Front abgewartet. Die Kampflinie war von den deutschen Truppen von Börgerwald nach Börgermoor zurückverlegt worden und wir glaubten uns in Sicherheit. Danach um 9 Uhr säuberten wir Kinder den Kuhstall. Da öffnete sich plötzlich die Stalltür (Falldöre), und zwei schwer bewaffnete deutsche Soldaten standen vor uns. Wir waren natürlich mehr als überrascht. Man bedenke, ca. 80 Meter entfernt – bei der Wirtschaft Grote/Muttkes - lagen die kanadischen Soldaten.

Die Wehrmachtsangehörigen beruhigten uns: „Ihr braucht keine Angst zu haben, wir tun euch nichts, sie wollen euch von den Feinden befreien“. Ihre Frage, wie stark die Besatzung sei, konnten wir nicht beantworten. Dann fragten sie uns, wo der Bauer sei. Mein Onkel war in der Küche; so gingen wir mit den beiden deutschen Soldaten dorthin. Mein Onkel Bernhard war erstaunt, dass plötzlich am frühen Morgen zwei schwer bewaffnete deutsche Soldaten in der Küche standen. Sie wiederholten sich: „Ihr braucht keine Angst zu haben. Wir tun euch nichts. Wir wollen nur den Feind beobachten und euch morgen befreien.“ Sie, der Waffen-SS-Unteroffizier und der Feldwebel, fragten uns dann, ob es oben im Hause eine Stelle gebe, von der aus man den Feind bei der nahe gelegenen Wirtschaft Grote gut beobachten könne. Mein Onkel sagte nichts, weil er immer noch erschrocken und sich der Gefährlichkeit der Situation bewusst war. Die beiden SS-Männer gingen dann alleine mit ihrem leichten MG vor der Brust, quer durch das Haus, so als wenn sie alles genau kannten, in den Flur, von wo aus die Treppe nach oben führte; dort lagen die Zimmer und dort war der Zugang zum Dachboden.

Zu dieser Zeit stand die Haustüre offen – und zu unserem Schrecken sahen wir auf der Straße kanadische Soldaten an der Panzersperre vor dem Haus patrouillieren! Mein Onkel sagte zum SS-Mann: „Mach doch die Türe zu. Die brauchen euch doch hier nicht zu sehen“. Er schloss die Tür. Darauf sagte einer der deutschen Eindringlinge: „Lass sie nur kommen! Wir haben keine Angst!“ Dabei zeigte er mit entschlossenem fanatischem Gesichtsausdruck auf seine Waffe.

Welch eine Situation!

Im Hause zwei schwer bewaffnete, fanatische SS-Soldaten, wahrscheinlich hasserfüllt und unbelehrbar, - und vor dem Hause schwer bewaffnete kanadische Soldaten, mit klarem Auftrag und entschlossen! Und keiner wusste vom andern.

Bevor dann die beiden Wehrmachtsangehörigen die Treppe emporstiegen, wiederholten sie ihren Spruch: „Ihr braucht keine Angst zu haben. Wir verschwinden so geräuschlos, wie wir gekommen sind. Morgen früh seid ihr vom Feind befreit! Heute Nacht setzten Truppen über den Küstenkanal und befeien Börgerwald. Wir erkunden nur.“ Keiner von uns wusste nun, ob sie nun nach oben in die Zimmer gegangen waren oder sich durch den Bodenraum in die Scheune verdrückt hatten und sich dort versteckt hielten. Mein Onkel forderte uns auf, in der Küche zu bleiben: „Und niemand geht nach draußen und verrät, dass hier deutsche Soldaten sind!“ und: „Ihr bleibt hier alle zusammen“. Meine Tante zündete eine Kerze an und stellte diese auf den Tisch und sagte: „Kommt, lasst uns beten!“ Wir hatten panische Angst. Wir beteten inbrünstig darum, dass diese Situation gut enden solle.

Während des Betens hörten wir Panzergeräusche in der Nähe des Hauses. Mein Onkel stand auf, ging zur Haustüre und erschrak erneut. In der Haustür vor ihm standen zwei kanadische Soldaten, mit Maschinenpistole im Anschlag und Entschlossenheit im Gesicht! Vor dem Haus stand ein Panzer mit dem Rohr auf das Haus gerichtet, am Giebel ein Weiterer und hinter dem Haus ein dritter kanadischer Panzer in Drohstellung. Einer der beiden GI´s fragte in gebrochenem Deutsch: „Hier deutsche Soldaten?“ Mein Onkel wusste nicht, was er sagen sollte! Ihm verschlug es die Sprache; durfte er die beiden Landsleute dem Feind „verraten“? Könnte man in dieser Situation Deutschlands überhaupt noch von Verrat sprechen? Er konnte andererseits auch nichts angeben, weil er den Aufenthaltsort auch wirklich nicht kannte. Er war sich unsicher; sprachlos! Der Soldat, zum langen Verhandeln nicht bereit, zeigte mit einem Finger auf seine Armbanduhr und drohte: „…in fünf Minuten! …dann alles platt!“

Mein Onkel wusste ja nur, dass die beiden Deutschen die Treppe hochgestiegen waren, später hatte er nichts mehr von ihnen gehört. Die GI´s ahnten wohl, das die SS-Leute im Obergeschoß waren und scheuchten meinen Onkel die Treppe hoch, mit einem Gewehr im Rücken. In höchster Anspannung bewegte er sich die Stufen hoch – denkbare Zielscheibe der beiden verfeindeten Gruppen. Die Kanadier folgten, blieben aber oben im Flur stehen. Onkel Bernhard, in dieser angsterfüllten, fürchterlicher Situation, ging durch eine Tür in Richtung Heuboden und rief: „Wo seid ihr? Ergebt euch! Sonst habt ihr keine Chance, lebendig herauszukommen! Überlegt euch das schnell! Das Haus ist von Panzern umstellt. Es wird sonst platt gemacht – es ist mein Hab und Gut. Ergebt euch!“

Einige Schreckssekunden, rasender Puls, Totenstille.

Dann Geräusche auf dem Dachboden über den Schlafzimmern. Dort lagen die Waffen-SS-Leute vor einem Uhlenlock (Rundfenster im Giebel des Hauses). Von da aus konnte man sehr gut die alliierte Besatzung bei Grote beobachten. Die Deutschen Soldaten erkannten wohl die Aussichtslosigkeit der Situation, (sie haben ja alles beobachtet) legten dann „Gott sei Dank“ ihre Gewehre an die Seite und ergaben sich. Die Kanadier führten sie ab. Wir saßen noch eine ganze Weile in der Küche und sprachen gemeinsam Dankgebete!

Das Beten wird wohl geholfen haben.